cigar | Gottes Stellvertreter
Aus Cigar 3/2016
Speis & Trank

Gottes Stellvertreter

Coole Köche treffen auf spektakuläres Ambiente. Mit dieser Formel ist das «The Jane» zu einem der meistgebuchten Lokale Europas geworden. Aber taugt die umgebaute Kapelle als Prototyp der Gastronomie von morgen?

Text: Wolfgang Fassbender
Fotos: Eric Kleinberg

Es sollte zur Pflicht gemacht werden, Restaurants zu Fuss anzusteuern. Vielleicht nicht die komplette Strecke, aber doch den letzten, den entscheidenden Teil. Man bekommt treffliche Einblicke ins Umfeld, nimmt den Kontext wahr, weiss mehr. Erst recht in Antwerpen, einer Stadt mit vielen unterschiedlichen Vier­teln, mit Flair. Schwer bewaffnete Soldaten patrouillieren in der Diamantengasse, den nahegelegenen Park teilen sich Jogger und Obdachlose, orthodoxe Juden eilen durch das «Jerusalem des Nordens». Sieht man keine Schläfen­locken mehr, flaut das Jiddisch ab, ist man da. Aber wo? Ein ehemaliges Mili­tärkrankenhaus, umgebaut zu einem Wohnkomplex. Mittendrin, irgendwo, die Kapelle, die keine Kapelle mehr ist. Gott ist ausgezogen, Sergio Herman kam.

Doch der Anbetungswürdige, der in seinem Drei­-Sterne-­Restaurant Oud Sluis jahrelang für Verzückung sorgte, jenseits der Grenze, in den Niederlan­den, scheint nicht da. Angebetet werden kann allenfalls Nick Bril, der coole Statt­halter des grossen Patrons, auch wenn es der nicht so mit dem Rauskommen zu haben scheint. Überhaupt sei ja man­ches anders im «Jane» als in üblichen Lokalen, heisst es. Tatsächlich. Man sei mittags und abends ausgebucht, erklärt Chef Bril, der dann doch kurz Auskunft gibt. Fülle will was heissen in einem Re­staurant, in dem man problemlos eine halbe Kompanie gleichzeitig unterbrin­gen könnte. Kunden, welche die Tret­mühle der Reservierung bewältigt ha­ben, können sich glücklich schätzen. Einfach anrufen und bestellen geht nämlich nicht, die Website listet einen ganzen Katalog von Regeln und warnt ausdrücklich davor, diese zu umgehen. «Ausnahmen werden nicht gemacht.» Also muss sich jeder, sofern alle regulä­ren Tische gebucht sind, auf die Warte­liste setzen lassen und jenem glückli­chen Moment harren, in dem das Telefon klingelt. Vielfach indes leuchtet nur ein roter Punkt im Reservierungs­system, dann hilft auch dieser Trick nicht mehr. Vielleicht probieren es ganz Ungeduldige ja mit Beten.

Doch was ist es, was die Menschen so fasziniert? Zuallererst das Ambiente, die spektakulären Ein-­ und Umbauten, die Küche im Chor, in die man hinein­schauen kann, die Beleuchtung. Faszi­nierend sind aber auch die Preise, denn von einem Zwei­-Sterne-­Restaurant erwartet man automatisch Teureres als jene 100 Euro, die ein Essen bei Bril kostet. In der allerumfangreichsten Menü­-Variante wären es knapp über 140, aber auch das ist ja freundlich. Manche erwarten im Gegenzug viel­leicht eine Antwort zu finden auf die bohrende Frage, wie Restaurants von morgen aussehen, wie man auch im Jahr 2020 erfolgreich wird Gastronomie betreiben können. Vielleicht tatsächlich genau so: ungewöhnliche Location, wenig Auswahl, viele Menschen. Die Masse machts.

Eine, die freilich zu Engpässen führt. Kurz nach zwölf herrscht das grosse Ankommen, die kleine Rezeption ist umlagert, man wartet auf einen Platz auf der Apéro-­Terrasse, sucht die Toiletten (im Untergeschoss, wo sonst?), be­sichtigt die «The Upper Room Bar» auf der Empore. Weil «The Jane» eben «The Jane» ist, nimmt das keiner krumm. Und alle finden es charmant, dass der Champagner in eine Sektschale gegossen wird; es ist ein eher langweili­ger Champagner, der nicht zum coolen Image des Hauses passt, den wir aber, man fragt sogar, auch in einem anderen Glas bekommen hätten. Zum Erfolg ge­hört offenbar, aller Avantgarde zum Trotz, ein Schuss Nostalgie. Oder ist Nostalgie die eigentliche Avantgarde? Während wir überlegen, kommen die Häppchen. Schnell getaktet, aber nicht so schnell, wie es in den meisten skandi­navischen Gourmettempeln und ­-kir­chen üblich ist. Erbsentörtchen mit Sal­siccia und Parmesan, Hering mit Randen und Apfel, eine kecke Bloody Mary. Schon hier merkt man, dass es Nick Bril und Team nicht in erster Linie um Provokation geht, sondern um Frische.

Sergio Hermann und Nick Bril


Eine veritable Furcht vor Mächtigkeit scheint sogar zu herrschen im flämischen Trendlokal, kein Gang verlässt die Küche ohne die rechte Portion Säure. Muscheln mit Gurken und Dill, Lachs mit Joghurt und Dashi, eine wunderba­re Auster mit thailändischem Salat: Mag man anderen Lokalen vorwerfen, dass sie herumeiern, hat «The Jane» eine Handschrift gefunden. Eine, die sich durchzieht bis zu Fisch und Fleisch. Schweinebauch mit Schnecken und Car­bonara­-Jus lässt Bril ankündigen, einen Gang, der noch nicht im aktuellen Menü stünde. Ob wir trotzdem kosten wollen? Her damit. Und auch das Extra­-Stück vom Txogitxu­-Beef lassen wir nicht zu­rückgehen. Mit Aubergine, schwarzem Knoblauch, Knochenmark und, na klar, Vinaigrette. Ein bisschen Säure hilft der fetten alten Kuh gigantisch auf die Sprünge. Hardcore­-Avantgardisten würden nun einwenden, dass baski­sches Spezial­-Rind schon vor drei Jah­ren gehypt wurde und heute gar nicht mehr so neu und spektakulär ist wie damals. Aber wenn man eines lernen kann vom «The Jane», dann dieses: Ein bisschen Spektakel genügt, zu viel hat oft den gegenteiligen Effekt.

Service und Getränke sind auch nicht sonderlich auf Drama gebürstet. Nach dem Einstiegsschock mit der Sektschale kommen die Weine nicht etwa in Zahn­putzbechern, sondern in ganz norma­len, stilvollen Weingläsern. Auf die Idee, zum Fleisch belgisches Bier zu genies­sen, kommen wir selbst, die meisten Gäste scheinen önologischen Konven­tionen gewogen. Auf dem Etikett des IPA räkelt sich eine gezeichnete nackte Frau, unwillkürlich schauen wir nach dem Beichtstuhl. Doch halt: Ausschwei­fend gesündigt wird ja eigentlich gar nicht im «The Jane». Nur entspannt genossen, frisch und geradlinig und erschwinglich. Wenn das die Zukunft der Gastronomie ist, dann ist alles gut.

Das Restaurant The Jane kann man mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder binnen fünf Minuten mit dem Taxi ab Bahnhof Antwerpen Centraal erreichen, sollte es aber nur im Notfall tun. Lieber wandert man 30 Minuten hinaus, später wieder hinein in die Stadt, besucht nach dem Essen noch das lebendige Hafenviertel. «The Upper Room Bar» heisst die Alternative zum Kirchenraum. Auf der Empore werden spannende Cocktails und ausgefeilte kleine Gerichte serviert. Zumindest mittags ist hier manchmal noch kurzfristig ein Platz zu bekommen – aber verlassen kann man sich darauf nicht. Das Lokal ist sonntags und montags geschlossen und sonst mittags und abends geöffnet. Für ein Menü mit Weinbegleitung sollte man zwischen 160 und etwas mehr als 200 Euro kalkulieren.

The Jane
Paradeplein 1
2018 Antwerpen, Belgien
+32 380 844 65
www.thejaneantwerp.com

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