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Cigar 4/2017

Auf der Suche nach dem Eldorado

Text: Roland Schäfli Fotos: Jörg Waldmeier
Er fand das grösste Nugget der Schweiz und löste den Goldrausch in Disentis aus. 20 Jahre später jagt der Mann, der als Gold-Gusti bekannt wurde, noch immer dem Traum von der Hauptader nach.
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Was sich im beschaulichen Dörfli Disentis verändert hat, seit Gold-Gusti vor 20 Jahren hier Gold suchte – und fand? «Die Menschen. Viel mehr Menschen.» Sie kamen, angestachelt durch seinen Fund. Gold-Touristen, die glauben, sie brauchten nur ein bisschen Glück und eine dieser gusseisernen Pfannen. Gusti sieht seinen Feriengästen auf dem Campingplatz wohlwollend zu, gibt ihnen als Reiseführer sogar Tipps. Aber im Winter, wenn den Greenhorns das Rheinwasser zu kalt wird und die Wohnwagen leer stehen, bricht der erfolgreichste Digger der Schweiz seine Zelte ab und folgt dem Ruf der Wildnis: nach Australien. Dort soll noch immer Edelmetall im Wert von Billionen im Untergrund stecken. Wo genau? Das ist ja gerade die Frage, die nach Abenteuer schmeckt. Ein Reglement, das in der Schweiz erlassen wurde und das Goldsuchen auf den reinen Hobbytrip beschränkt, kennt man da noch nicht.

August heisst er eigentlich. August Brändle war ein Junge, der nicht recht wusste, wohin. 15 Schnupperlehren gemacht, schliesslich Baumaler gelernt. Dann fing er sich eine seltene Krankheit ein. Infektionsgefahr: hoch. Das Goldfieber hatte den Stadtzürcher gepackt. Wer sein gutbürgerliches Leben für das Gold hinter sich lässt, der lässt auch seinen bürgerlichen Namen zurück. So wie seine Brüder im Geiste, Jack London oder Mark Twain, sich als Goldgräber mit Pseudonym neu erfanden, wurde aus August Brändle der Gold-Gusti.

Dieses Freiheitsgefühl, das er einem geregelten Leben vorzieht, kann er heute nur noch unter Australiens Himmel haben. Obwohl dieser Himmel von Fliegen verseucht ist und Brändle permanent unter einem Netz steckt, «denn sonst sind die Viecher nicht auszuhalten». Er schläft im Auto, auf heruntergeklapptem Sitz, «doch, doch, das ist bequem.» Und sicherer. Die Arbeit ist kein Schleck: «Bei 48 Grad machst du nicht mehr viel.»

Down Under steht auf Platz drei der Gold abbauenden Nationen. Gold gibts. Aber kein Wasser. Und Chicken Nuggets sucht man da vergeblich. 100 Liter Flüssigkeit vermag Gold-Gusti im Range Rover maximal zu befördern. Davon kann er im Outback zwölf Tage leben. Nur 50 Dollar zahlt er für eine Exploration- Lease, die Gebühr, um Bodenproben zu nehmen. Dafür ist sein Claim so gross wie das ganze Disentis-Gebiet. Und er muss ihn sich mit niemandem teilen ausser den Schlangen. «Unfälle gibts wenige», wiegelt Brändle ab. Zum Glück. Der nächste Arzt ist 150 Kilometer entfernt. Nur, dass da keine Strassen sind.

Beim Gedanken an die glühend heissen Tage lässt er gern den Blick über den kühlen Medelserrhein schweifen, der in Sichtweite seines Camps vorbeirauscht. Nach mehreren Monaten der Mühlsal ist er zurück auf seinem Stammplatz, dem Wohnwagen im Bünder Oberland. Passend, seine verwaschenen Jeans. Levi Strauss erfand sie während des kalifornischen Goldrauschs. Weil er in den zerschlissenen Beinkleidern der Digger ein Geschäft witterte, den Business Case der robusten Arbeitshose. Vor seinem mobilen Wohnsitz sitzt Brändle auf der roh gezimmerten Holzbank, zweifellos Marke Eigenbau. Das Holz ist ungeschliffen, aber Gold-Gustis Hände brauchen Splitter nicht zu fürchten. Schaufelartige Hände, hart gemacht wie die eines Bauarbeiters. Auch die bekannte Goldsucher-Saga vom «Schatz der Sierra Madre» beginnt mit einem Mann, dem glücklosen Dobbs, auf einer ungehobelten Holzbank. «Das Sitzen darauf könnte man als Strafe empfinden», steht da im ersten Satz. Weder Dobbs noch Brändle kümmert ihr unbequemer Platz. Ihre Gedanken kreisen permanent ums gelbe Metall.

Doch wer vom Übernamen Gold-Gusti auf Reichtum schliesst, der täuscht sich. 4000 Franken hat Brändle in Australien ausgegraben. Das deckt kaum die Unkosten. Und das verbindet ihn mit den ungezählten Männern, die während Jahrhunderten dem Lockruf des Goldes folgten. Wie 1848, als ein Schweizer namens Sutter, vor seinen Gläubigern nach Kalifornien geflüchtet, bei seiner Mühle ein Nugget im Wert von 30 Dollar fand. Die Meldung im Lokalblatt «Gold has been found» war in aller Welt zu hören. Sutter nannte sein Anwesen am Flussufer Fort Helvetia. Brändle nennt seinen Platz das Gold-Nugget-Camp. Beide Orte entwickelten sich zum Hotspot für alle Goldfieber-Kranken. «Ich werde rauschig, wenn ich in die Nähe von Gold komme», diagnostiziert Gold-Gusti die Symptome. Er tippt an seine Nase: Er könne es förmlich riechen, sagt er. «Und dann fährt das Adrenalin ein.»

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Sutters Gärtner, ebenfalls ein Schweizer, schrieb damals in sein Tagebuch: «Beunruhigende Gerüchte begannen sich mit der Geschwindigkeit einer Epidemie auszubreiten, und mit ihrer Verbreitung verschwanden Frieden und Stille. Allem Anschein nach scheinen die Menschen verrückt geworden. Offensichtlich leben sie einen Traum.» Auch Brändle träumt zuweilen vom Gold: «Vor allem, wenn ich lange keins gefunden habe.» Wenn er im Traum dann auf die Ader stösst, fühlt er das Glück fast körperlich. Ein süchtig machendes Gefühl, das einem nur selten vergönnt ist.

Mit diesem Erfolgserlebnis begann alles, am 19. Mai 1996. Gold-Gusti hatte seine Hausaufgaben gemacht. Sich gutes Kartenmaterial beschafft. Die Geschichte des Tals und seine Geologie studiert: Hier musste sich nach der Eiszeit das Flussgold in den Biegungen abgelagert haben. Brändles grosse Stunde schlug nach einem Hochwasser. Der Strom hatte Bäume weggeschwemmt, tonnenschwere Steine verschoben. Eine freigelegte Felsspalte am Flussgrund sah vielversprechend genug aus, drei Tage im kalten Wasser mit Bleigurt hinabzutauchen, bis der Ex-Baumaler ein 48,7 Gramm schweres Nugget in den Händen hielt. Als er wieder zu Atem gekommen war, hallte sein Jubelschrei durch die Lukmanierschlucht: «Heureka!» Und so wie er auch sich selbst auf einen neuen Namen getauft hatte, nannte er seinen namenlosen Klumpen «das Desertina-Nugget» – was «abgelegenes Gebiet» bedeutet. Das Resultat: 50 000 Franken. Und eine Unterkühlung. Verkauft hat er das Nugget nie. Es liegt als Leihgabe im örtlichen Museum.

Davor war selbst für die Einheimischen kaum vorstellbar, dass in ihrem Gewässer mehr als ein bisschen Goldflitter zu finden sei. Als Brändle und seine Kumpane in der Beiz ihre Funde herumzeigten, brachten sie damit andere auf den Geschmack. «Das war ein Fehler», sagt Gold-Gusti und schüttelt den Kopf. Er kennt es selbst nur zu gut, dieses Glitzern in den Augen. Dann kam der Boom, 2000 Goldjäger jährlich. Der gesamte Fluss wurde umgegraben. Irgendwann sprang der Tourismus auf. Heute kann man am Bahnhof einen Mini-Goldbarren kaufen, bevor man mit leeren Taschen den Zug nach Hause nimmt. Nachdem Zehntausende Laien auch einmal ein Körnchen fanden, werden kapitale Funde immer seltener. Ist eine Mine ausgebeutet, zieht ein Digger üblicherweise weiter.

Gold-Gusti bleibt. Und stiesse er auf seinen Berg von Gold, den er in seinen Träumen so deutlich vor sich sieht, dass es schmerzt, wenn er aufwacht? «Dann würde ich trotzdem weiter Gold waschen! Ich kann ja nicht einfach aufhören.» Die Genügsamkeit gehört zum Naturell des Goldsuchers.

Ein Mann geht an Gold-Gustis Camp vorbei, der im «normalen» Leben einen normalen Beruf ausübt, doch die Ferien stets auf dem Zeltplatz verbringt. Er sei fündig geworden, berichtet er Brändle, der so etwas wie der Guru hier oben ist; es lag schon auf der Pfanne, da habe er es «ausgewaschen», sagt er bekümmert. Gusti tröstet ihn: «Das kann jedem passieren.» So nahe dran, und dann holt sich der Fluss seinen Besitz wieder zurück. Wie am Ende vom «Schatz der Sierra Madre», wenn der Wind das Gold zurück zum Berg weht, ein kolossaler Witz der Natur auf Kosten der Menschen.

Mit der Prosa der Goldgräber-Romantik kann Gold-Gusti nicht viel anfangen. Es ist die Praxis, die ihn inspiriert. Was ihn von all den Amateuren unterscheidet? «Glück. Und: Man muss wissen, wo die guten Stellen sind.» Dem längsten Quellfluss des Rheins hat er schon mehr als ein Geheimnis entrissen. Warum er dieses Wissen überhaupt teilt? «Meine Lebensgrundlage ist der Tourismus», gibt er offen zu. Das bisschen Goldstaub reicht nicht zum Leben. Mit anderen Worten: Das Goldfieber, das die anderen befällt, finanziert auch sein eigenes.

Was übrigens aus Sutter wurde? Sein Abstieg war tragisch, sein Ende mitleiderregend. Keiner seiner Mitarbeiter starb eines natürlichen Todes. Erschossen. Erhängt. Ertrunken. Das Fort Helvetia zerfiel.

Wenn diese Cigar-Ausgabe erscheint, ist Brändle 68. Und wenn seine Mutter gerade ihren 90. Geburtstag feiert, wird er nicht dabei sein. Da ist keine Familie, die ihn hält. Das bisschen Gold um den Ringfinger einer Frau interessierte ihn nie. Nein, Gold-Gusti ist dann schon in Australien. In Victoria dieses Mal: «Wo dich die Hitze nicht gleich umbringt.» Und warum das alles? Bei dieser Frage schaut Gusti einen überrascht aus seinen blauen Augen an. «Ich muss einfach draussen sein – in der Natur!», ruft er aus, als ob eben diese ihn hören könnte.

«Der Mensch bekommt vom Leben immer weniger, als er verlangt», schrieb Jack London einst auf. Unterzeichnen könnte Gold-Gusti das nicht. Für ihn gibt es nichts Besseres. Darum kann er nicht einfach aufhören. Und wenn, dann bitte durch Herzschlag. Vor Freude, mit einem güldenen Mocken in der Hand. Das ist noch so ein Traum.