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Cigar 3/2017

Der letzte Flury

Text: Delia Bachmann Fotos: Jürg Waldmeier
Hubert Jacques Choquard führt die Cigarren Flury AG, die heuer ihren 150. Geburtstag feiert, in vierter und letzter Generation. Und im Spagat zwischen Trend und Tradition.
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Im Tabakwarengeschäft Flury am Berner Bahnhofplatz geht es schon vormittags zu wie auf einem Perron. Alle paar Minuten schnappt die schmale Eingangstür ins Schloss und spült Kunden in den Laden. Zwischen 350 und 400 sind es pro Tag, jene, die nur mal schauen wollen, nicht mitgerechnet. Hubert Jacques Choquard heisst sie alle mit einem höflichen «Grüessech» willkommen, nicht selten spricht er Kunden auch mit dem Namen an. Er führt die Cigarren Flury AG seit 1995 in vierter Generation und lässt sich so schnell nicht aus der Ruhe bringen: «Verglichen mit den Passantenströmen am Nachmittag ist das hier Peanuts», sagt er, winkt ab und widmet sich der nächsten Kundin. 

Die Dame mittleren Alters kramt ein leeres Zippo aus ihrer Handtasche. Die Nachfüllflasche hätte Choquard auch im Dunkeln gefunden – und das, obwohl das Regal in seinem Rücken bis zur Decke reicht und rappelvoll mit Tabakerzeugnissen und allerlei Accessoires ist. Hinter der Ladentheke ist der 58-Jährige in seinem Element. Sie ist, wie so vieles hier, originalgetreu restauriert – mit viel Liebe und noch mehr Geld. Dafür wurde das wohl älteste familiengeführte Tabakwarengeschäft der Schweiz 2010 mit dem Dr. Jost Hartmann-Preis bedacht, der alle zwei Jahre an die am besten renovierten Berner Altstadthäuser geht: «Von modischen Trends unbeeindruckt wurde immer an der Originalausstattung von 1913 festgehalten», heisst es auf der Preisurkunde, aufgehängt neben den Wasserpfeifentabaken. Selbst wenn das Geschäft nicht unter Denkmalschutz stünde, käme es Choquard «nicht im Traum in den Sinn» zu modernisieren: «Sie glauben ja nicht, wie viele Komplimente wir für den Laden erhalten.» 

Ein leger gekleideter Mann in den Dreissigern betritt das Geschäft, auf der Suche nach einer einzelnen Zigarre. Sofort unterbricht Hubert Choquard seine Geschichte über originale Messinggriffe und geleitet den Kunden zum Humidor in den hinteren Ladenteil. Dieser sei die Ruheinsel im Betrieb, abschliessbar und vergleichsweise neu: Als Choquard 1991 in den elterlichen Betrieb einstieg, sorgten Wasserbecken, die man wöchentlich auffüllen musste, für Feuchtigkeit. Nach wenigen Minuten kehren die beiden zufrieden zurück. Choquard ist Routinier, aber auch Autodidakt: «Ich habe alles durchgeraucht, als ich hier angefangen habe», erzählt der ehemalige Banker. Was das heisst: Rund 200 Zigarren, verteilt über mehrere Monate. Das Resultat des allabendlichen Rauchens waren Berge von Notizen, aber auch das Mass an Selbstbewusstsein, das dieser Job verlangt. 

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Aus diesem Grund gibt er «seinen Frauen», gemeint sind seine vier Mitarbeiterinnen, denselben Rat, den ihm sein Vater gab: «Nehmt eine Zigarre, probiert sie und bildet euch ein eigenes Urteil.» Hubert Choquard weiss: «Wer Zigarren mit Überzeugung verkaufen will, zitiert nicht aus Handbüchern, sondern erzählt in eigenen Worten von seinen Erlebnissen.» Da Choquard keine Kinder hat und das Pensionsalter näher rückt, muss er in den nächsten Jahren seine Nachfolge regeln. Er könnte sich eine Frau als seine Nachfolgerin vorstellen – wobei: «Auch wenn es zehn Frauen hat, muss in einem Tabakgeschäft mindestens ein Mann angestellt sein», sagt er und ergänzt etwas leiser: «Vor allem Zigarrenkunden sind nicht immer bereit, von einer Frau bedient zu werden, weil sie davon ausgehen, dass eine Frau zu wenig Erfahrung im Zigarrenrauchen hat.» 

Vom Randständigen bis zum Professor wird bei Cigarren Flury fast jeder fündig: Es gibt Pfeifen, Füll- und Würztabake, Spirituosen, Zigarren, Drehtabak, (elektronische) Shishas und Zigaretten sowie jede Menge Accessoires. Choquard, der schon als Junge im Laden aushalf, erinnert sich an das Sortiment von damals: Pfeifen, Tabak, Zigarren und jede Menge Stumpen, die sich die Kunden bei der Gasflamme an der Tür ansteckten. Wenn es um seine Kunden geht, steht die Gleichbehandlung für den umtriebigen Ladenbesitzer über allem: «Kunde ist Kunde, ob er für zwei Franken einkauft oder für 200.» Choquard ist kulant, aber auch seine Geduld kennt Grenzen und ist schnell erschöpft, wenn der Anstand auf der Strecke bleibt: «Was mich wirklich ärgert, sind jene, die reinkommen und, ohne ‹Grüessech› zu sagen, wissen wollen, wie viel Rabatt es auf den Kauf von 100 Zigarren gibt.» 

Rabattjäger sind jedoch nicht die einzigen Reizfiguren in Hubert Choquards Berufsleben. Dass der Mann mit dem gütigen Gesicht auch austeilen kann, zeigt sich etwa beim Thema Anti-Raucher-Gesetze – er gibt der Gastronomie eine Mitschuld: «Hätte sie etwas unternommen, als der Druck der Nichtraucherlobby aufkam, hätten wir heute weniger strenge Gesetze.» Empfindet Choquard eine Regulierung als unfair, scheut er sich nicht vor Diskussionen mit dem Bundesamt für Gesundheit. Erzählen ihm Kunden von Preisen, die bei korrekter Verzollung nicht möglich sind, wendet er sich an die Oberzolldirektion. Sein Motiv sei dabei stets die Gerechtigkeit: «Konkurrenzkampf ist in Ordnung, aber bitte mit gleich langen Spiessen», sagt er, und seine Miene verfinstert sich. Allerdings nicht für lange; eine ältere Dame mit violetter Haarsträhne baut sich vor dem Tresen auf und fragt nach dem rot-weiss gepunkteten Aschenbecher. Noch bevor Choquard sein «Grüessech» zu Ende gesagt hat, ist das gmögige Lächeln zurück. 

1867 gründete Kasimir Flury in Bern die Cigarren Flury AG. Damit ist sie das wohl älteste familiengeführte Tabakwarengeschäft der Schweiz. Mit Hubert Jacques Choquard, dem Urgrossneffen des Gründers, ist die vierte und letzte Generation am Ruder. 1914 zog die Firma in die mittlerweile denkmalgeschützten Räumlichkeiten am Bahnhofplatz 3 in der Schweizerhof-Laube um. Seit rund 40 Jahren zählt sie zu den ersten Davidoff-Depositären, seit zwei Jahren zu den «Habanos-Spezialisten». Heuer feiert sie ihr 150-Jahre-Jubiläum.

www.flury.com