Ein unzähmbarer Geist | Cigar Newsletter abonnieren
Cigar 4/2016

Ein unzähmbarer Geist

Text: Wiglaf Droste Fotos: Pascal Ungerer
Tomi Ungerer feierte unlängst seinen 85. Geburtstag. Eine gute Gelegenheit für eine feine Hommage an den Zeichner, Geschichtenerzähler und Kosmos-Politen.
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Natürlich ist auch Irland kapita­listisch, aber trotzdem sind hier alle gleich», sagt Tomi Ungerer, lächelt freundlich und offenbart ein beeindruckend unkorrigiertes Gebiss, das zu seinem durch­gearbeiteten Gesicht passt wie zum ganzen Mann. Wir sitzen im Garten des Three Castle Head Café, das Tomi Ungerers Sohn Lukas und seine Frau Joanne betreiben, von Juni bis August, länger dauert die Saison nicht im äussersten Südwesten Irlands, wo Wind und Atlan­tik ungebändigt und wild sind. «The winter here is a challenge», sagt Unge­rers Frau Yvonne; bei Regen, Wind und einer bis zum Äussersten rauen Witte­rung lässt sich zwischen Kühen, Scha­fen und klugen Hütehunden nur ein eingeschränktes Outdoor­-Leben führen. Hier muss man die Menschen im Kopf und im Herzen haben, denn zu Besuch kommen sie eher selten und vereinzelt.

Doch jetzt ist Juni in Ungerer­Land, die 160 Hektar auf dem umtosten Süd­westzipfel Irlands zeigen sich sonnig und einladend. Tomi Ungerer ist 85 Jah­re alt, hat internationale Klassiker für Erwachsene und für Kinder geschrie­ben und gezeichnet, ein ganzes Museum ist ausschliesslich ihm und seiner Arbeit gewidmet, und der gebürtige Strassbur­ger, der sich weder als Franzose noch als Deutscher sieht, sondern als Elsäs­ser und Europäer, trinkt einen Schluck Kaffee und dreht sich eine Zigarette. «Mein Hut hat keine Ecken, aber mein Kopf», sagt er, nimmt den alten Filz­deckel vom Kopf und lacht. Die Tod, Lebensgefahr und asozial­rücksichtslo­ses, gesellschaftsschädigendes Verhal­ten insinuierenden Aufschriften auf Tabakpackungen verachtet er wie die Nichtraucher­ und Volksgesundheits­lobbyisten, die er «Faschisten» nennt. Ein Auge hat er verloren, den Krebs und mehrere Herzinfarkte überlebt, und wenn so jemand das heute schon etwas kalenderblattisiert wirkende Malmot «Tumor mit Humor» benutzt, dann darf der das.

Kurz vor der Reise nach Irland hatte ich noch einmal «Kein Kuss für Mutter. Eine Geschichte über zu viel oder zu we­nig Liebe» gelesen und angeschaut, ei­nen Klassiker, der 1973 in den USA und auf Deutsch 1974 bei Ungerers Stamm­verlag Diogenes erschien; in den USA wurde es zum «schlimmsten Kinder­buch des Jahres» gewählt, weil die Hauptfigur, der junge, freche Kater Toby Tatze, sich mit einem Freund eine Coro­na ansteckt, «um sich Mut anzurauchen», und auf dem Frühstückstisch der Familie Tatze eine Flasche Schnaps zu sehen ist; für die Hüter einer aufgekleb­ten Moral waren das Gründe genug, Un­gerer aus den USA herauszuekeln.

«Das ist ein sehr autobiografisches Buch», sagt Tomi Ungerer über «Kein Kuss für Mutter»; er wollte nie überbe­hütet sein, sondern seinen eigenen Weg gehen und dabei finden. In die USA war Ungerer Mitte der Fünfzigerjahre des 20. Jahrhunderts ausgewandert, mit ein paar Manuskripten und 60 Dollar in der Tasche. Als er ankam, war er unterernährt und an einer Rippenfell­entzündung erkrankt, kam wieder auf die Beine, veröffentlichte sein erstes Kinderbuch, reüssierte als Grafiker und Zeichner und schockierte in den Sechzigerjahren die Ostküsten­Schicke­ria, indem er sie zeigte, wie sie war: in­trigant, selbstsüchtig, sexuell zwangs­exzessiv und in all dem bigott und verlogen. Seine Kinderbücher waren bei Kriti­kern umstritten, aber grosse Publikums­erfolge. 1961 erschien «Die drei Räu­ber», ein Märchen, das niemals alt wird. So geht das los: «Es waren einmal drei grimmige Räuber mit weiten schwarzen Mänteln und hohen schwarzen Hüten»; eines Nachts überfallen sie eine Kut­sche, in der das Waisenkind Tiffany sitzt, das sich über ihre Gesellschaft freut, bei ihnen lebt und sie dazu inspi­riert, aus einem prächtigen Schloss ein Waisenhaus zu machen. Die Kinder re­vanchieren sich und bauen «eine Stadt­mauer mit drei mächtigen Türmen. Für jeden Räuber einen Turm. Aus Dank­barkeit.»

Es gibt das Böse in Tomi Ungerers Kinderbüchern, aber die Bestie kann gezähmt und besiegt werden durch die Liebe, die sich bei Ungerer – wie schon bei Oscar Wilde – oft in der unschuldi­gen, naiven Liebe eines Kindes zeigt. Ein wundervolles Beispiel für diese nicht als «pädagogisch wertvoll» einge­stufte Sichtweise ist «Zeraldas Riese», das 1970 erschien und reichlich unge­mütlich beginnt: «Es war einmal ein einsamer Menschenfresser, ein Riese von Gestalt, und wie die meisten Men­schenfresser hatte er scharfe Zähne, ei­nen stacheligen Bart, eine grosse Nase, ein langes Messer, schlechte Laune und einen riesigen Appetit. Am allerliebsten auf der Welt ass er kleine Kinder zum Frühstück.» Doch das Mädchen Zeralda wird eben nicht gefressen, sondern bringt den Riesen von seinem speziellen Rohkost­-Fanatismus ab und setzt ihm die herrlichsten Speisen vor, bis es am Ende heisst: «Die Jahre vergingen. Ze­ralda wuchs zu einer schönen Jungfrau heran. Der wohlgenährte Menschen­fresser rasierte sich den Bart ab. Sie verliebten sich ineinander, machten Hochzeit, lebten vergnügt und bekamen ein Menge Kinder. Und so, möchte man meinen, lebten sie glücklich bis an ihr Ende.»

Kinder lieben Abenteuer, sie lieben Frechheit, die über Macht triumphiert, und sie lieben ein Happy End – aber erst nach viel Aufregung und Gefahren, die überwunden werden müssen. Nicht gleich von Anfang an darf «alles gut» sein, das ist stinklangweilig! Alle guten Bücher für Kinder und Erwachsene fol­gen dieser Regel, Stevensons «Schatz­insel» genauso wie Twains «Huckle­ berry Finn». Mit dem Kuschelwelt­-Eititei der meisten heutigen Kinderbücher ödet man Kinder, sofern sie noch nicht vollkommen darauf dressiert und abge­richtet sind, einfach nur an, erstickt ihre Fantasie, verblödet sie sträflich, und die Überprotektion führt dazu, dass sie vor allem Angst haben, was sie am liebsten täten. Auch Erwachsene, die nicht auf Lebensschönheitsverzicht konditioniert sind, lieben, auf einer anderen Entwick­lungsstufe als Kinder, die Welt als Eigen­willen und Vorstellung und nicht als Ort der einfältigen Verstellung mit Dutzi­ Dutzi.

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Dieser kranken Simulationswelt­ und Menschensicht hat sich Ungerer stets verweigert; er lügt keinem die Hucke voll, und genau das ist die Verlockung, in die Welt einzutauchen, wie Ungerer sie wahrnimmt, und die Welt mit seinen Augen zu betrachten. Das hält seine Bü­cher klassisch jung; man entdeckt, so man sich selbst verändert, immer wie­ der Veränderungen, und ein eigener Blick des Publikums aufs Gros und aufs Detail ist ausdrücklich erwünscht und willkommen. In Tomi Ungerer waltet ein unzähmbar unabhängiger Geist, pro­duktiv, spielerisch und mutig genug, die Welt als das anzusehen, was sie ist, und nicht als das, was sie nach den Massga­ben einer in Angst erstarrten Mehrheit sein sollte. Dabei hat Ungerer gar nichts gegen Angst als solche: «Keine Angst, kein Mut», hat er gesagt; nur wer Angst kennt, kann auch den Mut entwickeln, sie zu überwinden.


Auch die Illustrationen, die Ungerer für «Das grosse Liederbuch» zeichnete, das 1975 veröffentlicht wurde, gehören zum Kanon der deutschsprachigen Kul­tur. Wie Ungerer den «Bruder Jakob» in der freien Natur seinen Rausch aus­ schlafen lässt, ist so grundgütig und lus­tig, dass man sich gleich mit ins Bild betten möchte. In den USA verzieh man dem Provokateur und Grenzensprenger Ungerer nicht, zumal der bekennende Erotomane und Sexmaniac eben nicht heuchelte, sondern freimütig zeichnete und schrieb. Doch der Diogenes Verlag ging mit ihm durch dick und dünn, und so zog Ungerer mit seiner Frau Mit­te der Siebzigerjahre nach Neuschott­land in Kanada, wo sie in der Wildnis lebten, lernten, wie man in harschem Klima mit Tieren zusammenlebt, von der Geburt bis zur Hausschlachtung; dieses Leben beschrieb und illustrierte Ungerer später in seinem hinreissenden Buch «Heute hier, morgen fort», das 1983 erschien.

Etwas näher mit Tomi Ungerer be­kam ich zu tun, als ich auf einer kuli­narischen Reise bei Ungerers Freund Philippe Schadt im elsässischen Blaes­ heim ass; Schadt, Herr der Kohlköpfe, zeigte mir ein Kabinett im ersten Stock, das Tomi Ungerer mit erotischen, safti­gen und in jeder Hinsicht appetitanregenden Wandbemalungen verziert hatte. Für die 30. Ausgabe der kulina­risch­künstlerischen Zeitschrift Häupt­ling Eigener Herd, die ich etwa 15 Jahre lang mit dem Stuttgarter Meisterkoch Vincent Klink herausgab, lieferte Unge­rer die Zeichnungen. Damit das Heft pünktlich im Frühjahr 2007 erscheinen konnte, holte Vincent Klink die Zeich­nungen im Schwarzwald ab, wo Unge­rer bei einem befreundeten Hotelier und Koch lebte. Ungerer zeichnete beim Rouge auf Papiertischdecken, Klink fuhr ein paarmal bei ihm vorbei, und fertig waren die Illustrationen. So geht das!

Wir sprechen auch über Ungerers Kollegen Nikolaus Heidelbach, den Il­lustrator, Zeichner und Autor grosser Märchen und höchst eigenwilliger Ge­schichten für Kinder und Erwachsene, dem ich nach meiner Rückkehr eine Idee erzähle, zu der mich die Reise nach Irland inspirierte und die sich in Worten so beschreiben lässt: Die Bäuerin, ver­unziert nicht durch eine einz’ge Warze, / in Gummistiefeln und in Strapsen, trägt das kleine Schwarze. Heidelbach, Ungerers Cousin im Geiste, zeichnete das Blatt und schenkte es mir. Ungerer sagt: «Der Tod, die Liebe, die Frauen, das ist das magische Dreieck. Für Gott ist da kein Platz.» To­mi Ungerer ist kein religiöser Mensch, aber nicht aus kategorischer Ablehnung heraus, sondern weil er den Glauben, den er suchte, nicht fand. Auf die Frage, was er Gott fragen würde, wenn er ihm begegnen sollte, hat er geantwortet: «Wann haben Sie sich zum letzten Mal rasiert?» Tomi Ungerer ist ein Schalk, und er macht Bücher für ein ganzes Leben. Seines möge bitte noch lange andauern, das wünsche ich ihm und mir. Aus Dankbarkeit.