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Cigar 1/22

Fernab aller Sorgen

Text: Tobias Hüberli Fotos: Andy Mettler
Das Pferderennen White Turf in St. Moritz ist mehr als ein Klassiker. Es ist ein Hort des Friedens, insbesondere für gescholtene Minderheiten wie Superreiche oder Zigarrenraucher.
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Der Zigarrendunst schwebt hinauf zum makellos blauen Himmel. Derweil von oben satte Sonnenstrahlen hinabstechen, auf die mit Schnee bedeckte Eisschicht prallen und von dort in alle Richtungen zerspringen. Hinter der Sonnenbrille nimmt das zusammengekniffene Auge wenig wahr, alles ist blau oder weiss, in grelles Licht getaucht, einzig Silhouetten von Zelten und ein paar Menschen sind erkennbar. Auf einer winzigen Bühne spielen zwei jung gebliebene Typen «Another Brick in the Wall» von Pink Floyd. Es gibt Champa­gner und Austern für die besser Betuchten, Bier und Bratwurst für den Rest.

Das White Turf in St. Moritz ist das einzige internationale Pferderennen, das auf einem gefrorenen See stattfindet. Mittlerweile, muss man sagen. Bis 2018 galoppierten Vollblüter auch auf dem Obersee in Arosa um die Wette. Ungünstige Wetterlagen liessen einen regulären Rennbetrieb aber immer seltener zu. Und so fiel das traditions­reiche, 1911 erstmals durchgeführte Pferderennen von Arosa wohl dem
Klimawandel zum Opfer.

Nicht so in St. Moritz. Hier, wo die Engländer den Wintertourismus erfanden, gefriert der See nach wie vor zuverlässig. An drei Rennsonntagen lockt das heuer zum 114. Mal ausgetragene Spektakel insgesamt rund 30 000 Zuschauer auf das 50 Zentimeter dicke Eis. Am Samstag vor dem ersten Rennen ist davon noch nichts zu spüren. Die Wettschalter und die meisten Sponsorenzelte sind geschlossen, Kinder üben sich im Eishockey. Alle Sorgen dieser Welt scheinen weit entfernt. Gestört wird die Idylle nur durch schnittige Jets, die den Himmel im Viertelstundentakt durchschneiden, um im Flughafen von Samedan Passagiere abzuladen, die genau diesen Sorgen entfliehen.

2021 war kein einfaches Jahr für die erfolgsgewöhnten St. Moritzer. Publikumsmagneten wie das White Turf sowie das traditionell eine Woche davor stattfindende Snow-Polo-Turnier wurden pandemiebedingt abgeblasen. Die internationale Klientel blieb aus und zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg schloss das legendäre Fünf-Sterne-Hotel Badrutt’s Palace seine Tore. Tempi passati. «Die Zuversicht und mit ihr auch die Gäste sind zurück», frohlockt Thomas Walther, seines Zeichens Hotelier und Präsident des St. Moritzer Rennvereins. Die am Nordhang über dem See thronenden, in Stein gegossenen Monumente der helvetischen Hotellerie; das Carlton, das Kulm Hotel, das Badrutt’s Palace sowie das am nordöstlichen Ende des Sees gelegene Hotel Waldhaus am See sind gut gebucht. Niemand ahnt, dass sich die Weltlage zwei Wochen später schlagartig verdüstert.

Am Rennsonntag zeigt sich dann, dass ein Pferderennen auf Eis durchaus seine Tücken hat und der Klimawandel vielleicht auch St. Moritz nicht gänzlich verschont. Wasser drückte in einem Teil der Rennbahn durchs Eis, sodass die Verantwortlichen die Rennstrecke von 1800 Metern auf 800 Meter verkürzen mussten. Das wiederum veranlasste mehrere Trainer dazu, ihre an längere Strecken gewohnten Pferde zurückzuziehen. Die Stimmung nimmt ob solcher Nachrichten derweil keinen Schaden. Um elf Uhr pilgert eine illustre Schar auf den 78 Hektare grossen See. Die Temperatur beträgt noch immer minus acht Grad, bei jedem Atemzug gefrieren die Nasenflügel inwendig kurz an.

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Die Gäste des Kempinski Grand Hôtel des Bains fahren in Wolldecken gehüllt auf Pferdeschlitten an der Warteschlange vorbei durch den VIP-Eingang aufs Gelände. An den Wettschaltern herrscht reger Betrieb. Der Mindesteinsatz beträgt moderate zwei Franken. Spezielle Vorkenntnisse braucht es dafür nicht. Ausgerechnet auf dem Eis von St. Moritz verwischen sich die Klassenunterschiede. Oder anders gesagt: Am White Turf triumphieren regelmässig auch als zweit- oder drittklassig eingestufte Rennpferde, weil sie mit den ungewohnten Bedingungen besser klarkommen als die Favoriten.

Es ist durchaus verlockend, sich den Klischees hinzugeben, die am White Turf grosszügig bedient werden. Natürlich sind sie da, die in kostbaren Nerz ge­hüllten Damen, deren falten- und regungslosen Antlitze jenen griechischer Gottheiten gleichen. Auch die Jeunesse dorée ist präsent: Junge, in teuerste Mode eingekleidete Menschen, nicht selten begleitet von einem reinrassigen Hund, dessen Wärmedecke mehr kostet, als ein chinesischer Wanderarbeiter in einem Jahr verdient. Ob die gut sichtbaren, hauchdünnen Gucci-Socken dem Fuss genügend Wärme spenden, darf zumindest bezweifelt werden. Verachtung ist indessen fehl am Platz. Eine offene Gesellschaft gewährt jeder Minderheit einen Platz, an dem sie sein kann, wie sie ist – auch den Superreichen.

Beim zweiten Rennen des Tages kommt es dann zur Katastrophe. Das erst vor wenigen Monaten aus England eingeführte Pferd Echo Beach fällt kurz nach der Ziellinie – als Zweitplatziertes – tot um. Das Publikum reagiert bestürzt. Herbeieilende Helfer decken das am Boden liegende Tier mit einem Zelt ab. Eine Stimme aus dem Lautsprecher versucht zu beruhigen – und stellt zugleich klar: «Schuld trägt nicht die Rennbahn.» Die Tierärztin wird später einen plötzlichen Herztod feststellen.

Die Stimme aus dem Lautsprecher gehört Markus Monstein. Der Bündner ist selbst an einem Rennstall beteiligt (Stall Allegra) und ein profunder Kenner des Schweizer Pferderennsports. «Unfälle kommen leider vor, auf der Rennbahn wie auch bei normalen Ausritten», sagt der 48-Jährige. 2021 verzeichnet die Statistik des Schweizer Pferderennsport-Verbands bei insgesamt 214 ausgetragenen Rennen (Galopp und Trab) und über 2500 gestarteten Pferden auf Schweizer Boden einen einzigen Unfall mit fataler Folge. Ein erhöhtes Risiko bei auf Eis ausgetragenen Wettbewerben lässt sich aus den Zahlen nicht ableiten. «Der Pferderennsport ist in der Schweiz streng reguliert und kontrolliert», so Monstein. Bei Doping gelte eine Nulltoleranz, den Tieren werde grosse Sorge getragen.

Mit ziemlich genau einer Viertelstunde Verspätung geht das Renngeschehen ohne weitere Zwischenfälle weiter. Eine gemeine Wolke schiebt sich vor die Sonne über dem Piz Rosatsch und sofort macht sich eine eisige Kälte auf der Tribüne breit. Die mit dünnen Beinen und ebenso dünner Seide ausgestatteten Jockeys sind wahrlich nicht zu beneiden. Wie Moskitos kleben sie auf den Rücken der vor Energie nur so strotzenden Vollblüter. Der Wind macht das Anzünden der Zigarre zu einer
müh­seligen Herausforderung.

Eine Spezialität des White Turf ist übrigens das Skikjöring. Es wurde ebenfalls von den Engländern erfunden, die sich vor über 100 Jahren erstmals mit Ski hinter Pferde banden und auf der Kantonsstrasse einfach mal von St. Moritz nach Champfèr bretterten. Und so nimmt das Spektakel auf und abseits der Rennbahn seinen Gang. Um 15 Uhr sind alle Rennen bestritten, die Sieger gekürt, nur die Sonne will an
diesem Tag nicht mehr richtig hervorkommen. Zeit also für ein allerletztes Glas Champagner vor dem kurzen Fussmarsch in eine der traditions­reichen gut beheizten Zigarrenlounges von St. Moritz.

Viel los im Kempinski

Im Partnerhotel des White Turf, dem Fünf-Sterne-Hotel Kempinski Grand Hôtel des Bains, stehen die Zeichen auf Umbruch – und zwar durchaus im positiven Sinne. Der neue Besitzer gedenkt kräftig in das Traditionshaus zu investieren. Die 224 Hotelzimmer sollen in den nächs­ten Jahren sukzessive renoviert und der Spa durch einen Outdoor-Jaccuzzi erweitert werden. Im Mai sollen dann die Umbau­arbeiten im Casino beginnen. Mit dem Ristorante Da Adriano setzte das Kempinski dieses Jahr zudem einem langjährigen Mitarbeiter ein Denkmal. Seit 2006 waltet Adriano Feraco als – weit über die Grenzen von St. Moritz hinaus bekannter – Gastgeber des Restaurants Enoteca, das nun seinen Namen trägt. Zwischen Marquisen und Zitronenbäumchen geniessen die Gäste eine feine, aber unkomplizierte italienische Küche. Das Servicepersonal rekrutiert Feraco jeweils aus den besten Häusern der Amalfiküste.

Einige Aufregung entstand um das mit zwei Michelin-Sternen und 17 Gault-Millau-Punkten dotierte Gourmetrestaurant Cà d’Oro. Ende Winter verliessen die dafür verantwortlichen Küchenchefs Matthias Schmidberger und Reto Brändli überraschend das Haus. Für den nächsten Winter – das Cà d’Oro bleibt im Sommer jeweils geschlossen – haben die Verantwortlichen mit Leo Ott nun aber einen hochtalentierten Nachfolger verpflichtet. Unangetastet bleibt die altehrwürdige Zigarrenlounge des Hauses. Die von der anliegenden Bar aus orchestrierte Auswahl an Cocktails und Spirituosen ist einwandfrei, genauso wie das von Habanos-Spezialist Cigar Must kuratierte Zigarrensortiment.

kempinski.com