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Cigar 3/2016

Kontrolliertes Nichtstun

Text: Wolfgang Fassbender Fotos: Kiko Jimenez – Fotolia.com, Njazi Nivokazi
Keine Rebsorte passt besser zu Sommer und moderner Küche als Riesling. Deutsche Winzer widmen sich der säure-frischen Spezialität besonders intensiv, finden inzwischen blind den Weg zwischen Tradition und Moderne.
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Ob Hajo Becker lächelt, weiss man nie so genau. Der Rheingauer Winzer trägt seit Menschengedenken einen üppigen Schnurrbart, ist allerdings auch nicht als Spassvogel bekannt. Ihn, der in jeder Agatha-Christie-Neuverfilmung den Adeligen vom Lande spielen könnte, einen Riesling-Traditionalisten zu nennen, wäre richtig und falsch zugleich. Auf alte Holzfässer schwört er, wie seine Vorfahren. Andererseits war Becker der erste Winzer in Deutschland, der den Glasverschluss einführte, den unzuverlässigen Kork verbannte. Allerlei ältere Jahrgänge kann man bei ihm kaufen, sogar nach Rarem aus den Neunzigern fragen. Spätestens im Anschluss an deren Verkostung stellt man fest: Das Zeug reift mindestens so gut wie klassifizierter Bordeaux, kostet allerdings markant weniger.

Es sind zwei Markenzeichen des Rieslings, dass er gut schmeckt und günstig zu haben ist. Erst allmählich beginnen die Deutschen an jene Zeiten anknüpfen, in denen Riesling namhafter Produzenten bisweilen so teuer war wie Mouton-Rothschild. Welcher Reichtum um 1900 die Mosel hinabfloss, wird bei einem Spaziergang durch den villen-durchsetzten Jugendstilort Traben-Trarbach deutlich. Riesling bester Mosel- und Rheinlagen wurde damals in Pariser und Londoner Restaurants begeistert ausgeschenkt, bis der Krieg den Export zum Erliegen brachte und die europäische Leidenschaft für deutschen Wein nachhaltig kontaminierte. Die Folgen sind hundert Jahre später noch spürbar, doch längst geht es aufwärts. Auch bei Nico Caspari und Uwe Jostock, die im benachbarten Enkirch nicht alles anders, aber vieles konsequenter machen. Caspari-Kappel nennt sich das Weingut, das bis vor ein paar Jahren kaum jemand kannte. Moderne Etiketten gehören zur Corporate Identity, nur die Flasche des rarsten Weines sieht seltsam aus. Tatsächlich erinnert der Trabener Gaispfad ein bisschen an jene Zeit, als die typisch schlanke Rieslingflasche noch nicht erfunden war. Knapp über 20 Euro kostet der Wein von 100 Jahre alten Reben: fast nichts, wenn man den Aufwand in steilen, bröckeligen Parzellen und die kleinen Erntemengen in Betracht zieht.

Logisch, dass Riesling lange nicht sonderlich populär war. Ist das Frühjahr nass, verrieselt zudem die Blüte, bleibt unbefruchtet. Gut möglich, dass Riesling seinen Namen vom Verb verrieseln erhielt, vielleicht aber auch von «rus», was fürs dunkle Holz steht, eventuell von reissen – tatsächlich reisst einen ja ein Schluck Riesling aus kaltem Herbst auf säuerlichste Weise von den Socken. Als so was noch öfter vorkam, setzten die Erzeuger den Weinen schon mal Zuckerwasser zu; bis 1984 eine an der Mosel erlaubte Panscherei. Heute dagegen diskutiert man eher, ob zu warme Sommer dereinst der Rieslingfrische jeden Garaus machen könnten. Bis es so weit ist und die Sorte nach Dänemark und Schweden abwandert, dominiert die Bundesrepublik den Rieslinganbau. 

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Mögen auch die Österreicher mitmischen, die Elsässer mit Eigenständigkeit auftrumpfen, die USA zulegen: An den Deutschen kommt keiner vorbei. Auch weil die Vielfalt grösser ist denn je. Urgestein Willi Schaefer, dessen Etiketten jedem aufrechten Designer Tränen in die Augen treiben, zaubert von gerade mal vier Hektaren federleichte Rieslinge, wurde weltweit bekannt für sogenannte Kabinette mit gerade mal acht Prozent Alkohol: erfrischend wie ein Gletscherbach.

Janina Schmitt und Rebecca Materne können dagegen als Quereinsteigerinnen keine Experimente treiben, beschränken sich auf Mund-zu- Mund-Propaganda. Vor vier Jahren liessen sie sich nahe Koblenz nieder, kämpfen gegen die Natur und machen klar, dass sie für ihre Lagenweine eigentlich Preise von über 30, besser 50 Euro erzielen müssten, damit die ganze Sache langfristig Erfolg hat. Wer bei den Jungwinzerinnen nach Geheimnissen sucht, wie dies Weinjournalisten nur zu gern tun, hat Pech. Im gemieteten Keller stehen ein paar Stahltanks, in denen sich auf verborgene Weise alles abspielt, was nicht im Weinberg passiert: bisschen Monopoly, nie langweilig. Ein Spiel mit unendlich vielen Variablen sei das mit dem Riesling, schwärmt Mittelrhein-Winzer Florian Weingart, einer der Nachdenklichsten der Branche. «Anarchie» benennt er bisweilen einen Wein, sollte sich dieser im Keller hartnäckig den Wünschen des Chefs verweigern. Nach zwei kleinen, schwierigen Jahrgängen hat Weingart 2015 wieder Hoffnung geschöpft.

Von der muss Urban Kaufmann viel gehabt haben, als er aus dem Appenzell nach Hattenheim zog; Ende 2013 übernahm der Schweizer das ehrwürdige Rheingau-Weingut Hans Lang. Statt Käse, den Kaufmann zuvor produziert hatte, nun eben Riesling. Obwohl: Zum Fondue passt ja, wenn man ehrlich ist, der säurebetonte Deutsche viel besser als der milde Schweizer Chasselas. Würde wohl auch Winzer Jochen Beurer bestätigen, der seine Riesling-Philosophie unter dem Begriff «kontrolliertes Nichtstun» zusammenfasst. Der Fast-Stuttgarter, der als schwäbischer Rieslingexperte Nummer eins gilt, geht die Sache ohne Hektik an. Biodynamische Arbeit im Weinberg, spontan einsetzende Gärung, genügsames Abwarten: Riesling ist der feuchte Traum jedes aufgeschlossenen Kellermeisters.

Und natürlich der kreativer Gastronomen, die auf Frische und Eleganz setzen, nicht auf Fülle und Röstaromen. Ein paar Schritte vom Weingut Beurer entfernt wirtet Joannis Malathounis, ein Schwabe mit griechischen Wurzeln, der mutterseelenallein eine mit Stern prämierte mediterrane Küche kocht, samt überraschenden Wendungen. Ente mit Kreuzkümmeljus und Kichererbsen oder Bouillabaisse von Mittelmeerfischen mit Tomatentarte: Wer da nicht zu Riesling greift, hat noch keinen gescheiten getrunken. Und Hajo Becker? Der Mann mit Schnurrbart schätzt gutes Essen, denkt aber nicht im Traum daran, sich selbst an den Herd zu stellen. In seinem Gastgarten, gleich am Rheinufer, schenkt er nur Wein in kleinen und grossen Portionen aus. Essen dürfen die Besucher selbst mitbringen, der Pizzaservice liefert bei Bedarf. Eine heisse Quattro Stagioni, dazu ein drei Jahre gereifter Riesling von alten Reben aus dem Wallufer Walkenberg – allein dafür lohnt die Reise ins deutsche Rieslingparadies.

Mythos Riesling
Die Herkunft des Rieslings ist zwar ungeklärt, doch einigermassen klar wurde, dass sich Heunisch, Traminer und eine Wildrebe irgendwann miteinander verbunden haben. Erstmals 1435 taucht urkundlich der Name Riesling auf, 1787 wurde sein Anbau an der Mosel Pflicht – was die Winzer gern zu umgehen versuchten. Deutschland besitzt mehr als 40 Prozent der weltweiten Rieslingfläche, weit vor den USA, Frankreich und anderen Ländern. Sich in die Welt der Kabinette (leicht), der Grossen Gewächse (kraftvoll und trocken), der Auslesen und Eisweine zu vertiefen, ist spannend, braucht aber Zeit. Händlerpräsentationen (wie bei Gerstl) oder Weinmessen eröffnen Probiermöglichkeiten. Fast alle deutschen Winzer empfangen gratis oder gegen eine kleine Gebühr zur Verkostung; Anmeldung ist erwünscht, manchmal verpflichtend.

Rieslingwinzer & ihre Quellen

Hajo Becker & Willi Schaefer: zu haben bei Gerstl Weinselektionen, Fegistrasse 5, 8957 Spreitenbach, 058 234 22 88, www.gerstl.ch
Jochen Beurer & Florian Weingart: werden vertreten durch Riesling & Co, Hauptstrasse 24e, 4944 Auswil, 062 965 43 65, www.rieslingco.ch
Urban Kaufmann (Weingut Hans Lang): im Verkauf beim Wyhuus am Rhy, Offenburgerstrasse 41, 4057 Basel, 061 222 25 00, www.wyhuus-am-rhy.ch
Nico Caspari & Uwe Jostock: Weingut Caspari-Kappel, Am Steffensberg 29, D-56850 Enkirch, +49 6541 6348, www.caspariwein.de
Janina Schmitt & Rebecca Materne: Weingut Materne & Schmitt, Bachstrasse 16 –18, D-56333 Winningen, +49 157 819 666 91, www.materne-schmitt.de