Big Smoke
Eine Hommage an den Genuss
Zuerst müssen wir über Ihre Familie reden. Schliesslich ist es alles andere als Zufall, dass Sie mit Autos arbeiten.
Marcel Widler: Das stimmt. Ich bin der Spross einer der ältesten Automobilfamilien der Schweiz. Mein Ururgrossvater war Kutschenbauer und erfand das Postauto: Um die Jahrhundertwende nahm er ein französisches Chassis, setzte eine Kutsche obendrauf – das wars. Mein Urgrossvater indes importierte in der Schweiz als Erster Autos aus Amerika und Italien: Fiat Lancia, Studebaker, Stutz und so weiter. Er war offizieller Bugatti-Vertreter und unterhielt eine Reparaturwerkstatt in St. Gallen.
Wie lief das?
Unter meinem Urgrossvater und meinem Grossvater wuchs die Firma stark. Zwischen den beiden Weltkriegen beschäftigte sie rund 50 Mitarbeiter. Zudem hatte die Familie eine Fahrschule, in die vor allem mein Grossvater investierte. Er war in St. Gallen bekannt und politisch aktiv. Für mich war er ein Vorbild – ein wahnsinniger Patriarch, sehr streng, aber man wusste genau, woran man bei ihm war. Gegen Ende seiner Zeit in der Firma stagnierte der Betrieb – während der Markt rundherum stark wuchs. Mein Vater war damals bereits ins Geschäft eingestiegen, ich erinnere mich gut. Auch daran, wie ich mit zehn oder elf entdeckte, wie spannend der Garagenbetrieb ist.
Erzählen Sie.
Damals kam zu meinem ersten Hobby – aus dem Fenster schauen und die Marken der Autos erraten – ein zweites: das Ersatzteillager. Es war für mich wie ein riesengrosser Spielwarenladen, in dem Hunderttausende Teile bereitlagen. So fühlte es sich zumindest an. Ich fing zu schrauben an. Das war bei mir seit jeher ein Thema: Man durfte mir schon als kleines Kind nichts in die Hand geben, das sich auseinandernehmen lässt.
Warum?
Weil ich halt genau das tat. Einmal kaufte mir meine Mutter ein Spielzeugauto aus Holz. Als es daraufhin im Kinderzimmer sehr still wurde, wusste sie, dass das kein gutes Zeichen ist. Sie traf mich mit dem Küchenmesser an, während ich am Auto sägte – und schauen wollte, wo sich der Motor befindet. Sachen auseinandernehmen und rausfinden, wie was funktioniert: Das war immer mein Ding.
Dazu passt, dass Sie die Lehre zum Automechaniker absolvierten. Ihr Traumberuf war das allerdings nicht.
Nein, ich wollte Medizin studieren und fing die Lehre auf Wunsch meines Vaters eher halbherzig an. Es war immer klar, dass ich als Erstgeborener meiner Generation den Familienbetrieb übernehmen soll.
Was faszinierte Sie denn an der Medizin?
Als Kind war ich oft krank, und mein Arzt hatte für mich regelrechten Vorbildcharakter. Ich versuchte früh zu verstehen, wie der menschliche Körper funktioniert. Die Anatomie interessiert mich noch immer – auch beim Auto.
Wie meinen Sie das?
Ich arbeitete eine Zeit lang in der Fahrzeugentwicklung und weiss, dass der Mensch in der Regel Sachen entwirft, die er aus der eigenen Anatomie heraus erklären kann. Das gilt zumindest fürs Mechanische. Wir haben Sehnen und Nerven, eine Lunge, Nieren, eine Leber, ein Herz ... All das ist beim Auto auch vorhanden, und wenn ein Fahrzeug kaputtgeht, liegts oft daran, dass mindestens eins der mechanischen Organe nicht genug gepflegt wurde.
Das müssen Sie erklären.
Nehmen wir die Leber: Wenn der Mensch zu viel Whisky trinkt, geht sie kaputt. Dem entspricht der Ölkreislauf: Ein Auto braucht ab und zu frisches Öl – aber nicht zu viel. Die Niere als Organ, das filtert und absondert, lässt sich mit dem Abgassystem vergleichen, die Lunge mit dem Ansaugtrakt. Und der Motor ist das Herz. Absolut. Darum verstehe ich meine Werkstatt als Klinik: Wir arbeiten sauber und logisch, in der Notfall-Abteilung machen wir die Anamnese und die Diagnose, leisten Erste Hilfe und führen kleinere Reparaturen durch. Bei grösseren Verletzungen verlegen wir das Auto in den Operationssaal – die Werkstatt.
Lassen Sie uns erneut zurückblicken: Der Familienbetrieb wurde 1994 verkauft.
Nach einem Erbstreit zwischen meinem Vater und seiner Schwester ging er in fremde Hände über, ja. Ich war zuvor in Paris gewesen, hatte da studiert und in der Fahrzeugentwicklung bei Renault gearbeitet. Als es darum ging, den Betrieb daheim allenfalls aufzulösen, gab man mir erst noch die Chance, es zu versuchen. Ich konnte ein tolles Team und einen guten Ruf aufbauen, wir hatten mit Sportwagen grossen Erfolg, die Firma wurde wieder interessant und mir war klar, dass wir investieren mussten. Da gingen die Vorstellungen meines Vaters und meiner Tante aber eben auseinander. Ich suchte mir einen neuen Weg.
Sie wagten den Schritt in die Selbstständigkeit. Wie war das für Sie?
Zuerst ging ich zurück nach Paris und arbeitete bei Peugeot-Citroën im Vertrieb. 2001 kehrte ich heim und gründete die Autofocus AG. Anfangs beschäftigte ich mich mit den Oldtimern vornehmlich in der stillen Kammer, restaurierte sie nebenher und pflegte meine Sammlung. 2006 beschloss ich, daraus unter dem Namen Goodtimer was Richtiges aufzuziehen und eröffnete eine kleine Werkstatt. Bald schon kam eine weitere hinzu, noch eine, eine Lagerhalle, eine Sattlerei. Mit fünf Infrastrukturen wurde es kompliziert.
Sie setzten alles auf eine Karte.
In der Tat. 2009 gab ich meine Beratertätigkeit ab, verkaufte meine zwei Wohnungen, meine zwei Segelschiffe und das Motorboot – und kratzte alles Geld zusammen, um mich voll auf die Oldtimer zu konzentrieren. Ich fand den Standort hier in St. Margrethen, musste den Preis dafür aber zwei Jahre verhandeln.
Ist Hartnäckigkeit in Ihrer Branche Pflicht?
Man muss in der Welt der klassischen Automobile schon dranbleiben, denn die guten Sachen wollen alle haben. Ich sage drum gern, dass der Defender ein Auto ist, das zu mir passt: Er kennt keine Hindernisse. Mich packts so richtig, wenn mir einer sagt, etwas gehe nicht, sei zu streng, zu steil, zu hart.
Was treibt Sie an?
Mein Herz; wenn es zu klopfen beginnt, sobald ich ein Auto sehe. Ich gelte als sehr ehrgeizig. Wobei ich mich selbst einfach als leidenschaftlichen Menschen sehe: Ich möchte Freude haben und bereiten. Deshalb rate ich Kunden ab und zu auch von einem Auto ab.
Warum?
Weils vielleicht nicht passt oder das Händchen dafür fehlt. Unsere Kunden sind in der Regel Fahrer, die den Oldtimer nicht nur als Wertanlage kaufen, sondern nutzen. Das ist mir wichtig: Man muss ein Auto fahren, man soll es geniessen!
Ein gutes Stichwort: Genuss. Was verstehen Sie darunter?
Oldtimer fahren, natürlich. Wenn ich in einem alten Auto sitze und vor mir eine schöne Landschaft sehe, bin ich der glücklichste Mensch auf Erden. Ich geniesse aber genauso ein gutes Essen – oder Zigarren, wenn auch nicht mehr so intensiv wie damals, als ich bei Peugeot-Citroën Karriere machte. Da tranken wir nach der Sitzung Wein oder Cognac und rauchten Zigarre. Heute zünde ich mir zur Entspannung gern ein etwas milderes Kaliber an. Dafür geniesse ich fast jeden Abend einen Whisky: Er ist mein Ritual zum Feierabend. Alles in allem glaube ich: Ich bin ein Genussmensch – wie eigentlich alle in meiner Familie.
Wie war das in Ihrer Kindheit?
Mein Vater liebte gutes Essen, meine Mutter kochte für ihr Leben gern, und wir hatten immer ein volles Haus. Oft schnappten sich meine Eltern ein Cabrio und machten einen Ausflug, später durfte ich jeweils mit. Dazu kamen dieWochenenden, die wir am Bodensee verbrachten, an dem wir eine zweite Heimat und ein kleines Boot hatten. Wir sassen am Lagerfeuer, segelten, fuhren Velo und Wasserski …
Heute fahren Sie Oldtimer-Rallyes.
Leidenschaftlich gern, ja, meistens gemeinsam mit meinem besten Freund als Co-Pilot. Wir nehmen abwechselnd an Rallyes in der ganzen Welt teil, machen mal die Mille Miglia, die Histo Monte Carlo, die Gran Premio Nuvolari oder die Raid in der Schweiz. Als härteste Herausforderung gilt in der Szene die Le Jog, die wir 2014 in Angriff nahmen. Sie führt von Land’s End am südwestlichen Zipfel Englands nach John O’Groats am nordöstlichen Zipfel von Schottland. Es geht 72 Stunden lang über Stock und Stein, das Roadbook muss man selber schreiben – an Schlaf ist nicht zu denken.
Ui.
Ja, das realisierten wir dann auch. Wir fuhren ja auch noch selbst nach Land’s End, das macht praktisch keiner. Auf jeden Fall schliefen wir schon in den Nächten vor der Rallye nicht allzu viel. Dazu kam ausserdem das typisch britische Wetter, und zu meiner Schande muss ich gestehen: Es ist die einzige Rallye, die wir nicht beendet haben. Ausgerechnet! Aber wir werden einen zweiten Anlauf nehmen.
Geballte Kompetenz
In St. Margrethen sorgen Marcel Widler (56) und sein Team dafür, dass alte Liebe nicht rostet: In der Goodtimer-Garage der Autofocus AG dreht sich auf über 2500 Quadratmetern alles ums klassische Automobil. Neben der Reparatur übernimmt Widler auch Kommissionsverkäufe, beherbergt und unterhält Kundenfahrzeuge oder reist im Auftrag von Autoliebhabern um die Welt, um wertvolle oder seltene Objekte aufzustöbern respektive zu begutachten. Widler ist auf Fahrzeugprüfungen und Expertisen von Oldtimern spezialisiert und engagiert sich an vorderster Front in der Aus- und Weiterbildung des Branchennachwuchses. Nichtsdestotrotz steht er rund einen Tag pro Woche selbst in der Werkstatt. Sein erklärtes Ziel ist es, jeden Oldtimer so nah wie möglich an den Originalzustand zu bringen.
Autofocus AG – Goodtimer
Hauptstrasse 23
9430 St. Margrethen
071 450 01 11
www.goodtimer.ch
Für die Zigarre danach
Bevor er bei Goodtimer in den Showroom gelangt, steht der Kunde in der grosszügigen Boutique, in der es allerlei Accessoires für den Oldtimer-Fahrer zu erstehen gibt. Einen Teil dieses Bereichs will Marcel Widler nun zu einem «Feierabend-Office» umnützen. Geplant ist ein Büro für Sitzungen, Kundengespräche und gesellige Treffen, in dem nicht zuletzt auch Platz für den entspannten (Rauch-)Genuss bleibt – etwa für die Zigarre nach einem erfolgreichen Abschluss oder den obligaten Whisky nach Feierabend. Im Frühling will Widler den neuen Raum in Betrieb nehmen.