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Cigar 2/2020

Seltene Zeitzeugen

Text: Tobias Hüberli Fotos: Njazi Nivokazi
Seit Juni gibts im Zürcher Zunfthaus zur Waag legendäre Rot- und Edelsüssweine zu entdecken. Sie treffen dort auf einen ebenfalls legendären Gastgeber und eine passende, klassisch französische Küche.
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Vieles bleibt von 1928 nicht mehr in Erinnerung. Es war das Jahr, in dem der Republikaner Herbert Hoover die US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen gewann, in der Sowjetunion die ersten Schauprozesse begannen und in Grossbritannien das Frauenstimmrecht eingeführt wurde. Zeitzeugen existieren nur noch wenige, die meisten schlummern heutzutage in gut gekühlten Kellern und sorgsam gepflegten Flaschen. Denn ein heisser Sommer sowie optimale Bedingungen brachten vor 92Jahren in Frankreich einen legendären Jahrgang hervor. Die 1928er-Weine insbesondere von Weingütern wie Château Margaux oder Château Latour sind begehrte und entsprechend teure Sammlerstücke, die nur selten entkorkt werden.

Verständlich, aber auch etwas schade, findet das Jürg Richter. Der erklärte Weinenthusiast sammelt die alten Schätze Frankreichs nicht nur intensiv, sondern plädiert auch dafür, sie im richtigen Alter zu geniessen. «Ich trinke eigentlich keine Weine, die jünger sind als 20 Jahre. Viele entfalten erst dann ihr einzigartiges Potenzial.» Und schliesslich sei es eine einmalige Gelegenheit, etwas Feines aus einer längst vergangenen Zeit zu trinken. «Von vielen Jahrgängen existieren weltweit vielleicht 20 oder noch weniger Flaschen», so der 56-Jährige.

Wer sich ein solches Erlebnis gönnen will, dem empfiehlt sich ein Besuch im Zürcher Zunfthaus zur Waag. Seit Juni bietet Zunftwirt Sepp Wimmer auf rund 250 Positionen Raritäten und Trouvaillen an. Der Clou: Auf der klug zusammengestellten Liste figurieren neben den renommiertesten Weinen wie etwa einem Château Haut-Brion 1961, einem Château Margaux 1928 oder aber einem Richebourg 2004 der berühmten Domaine de la Romanée-Conti auch hervorragende Flaschen von etwas tiefer klassierten Erzeugern, zum Beispiel ein Château Lynch-Bages oder ein Château Pichon-Lalande aus dem ebenfalls ausgezeichneten Jahrgang 1982.

Die Idee, gereifte Weine (Richter vermeidet das Wort «alt») im Zunfthaus zur Waag auf die Karte zu nehmen, entstand während der Corona-Krise. «Ich bin Stammgast bei Sepp und wollte ihm damit helfen, neue Gäste zu begeistern, um so schneller aus dieser für Gastronomen schwierigen Zeit herauszukommen.» Für Wimmer sind die berühmten Weine ein Glücksfall und eine ideale Ergänzung zu einem bereits ansprechenden Angebot.

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Der 60-jährige Österreicher gehört zweifellos zu den besten Gastgebern der Limmatstadt. Das seltene Gen, Gäste zu umsorgen, sie zu beraten, zu unterhalten und im richtigen Moment alleine zu lassen, hat Wimmer vielleicht von seinem Vater, selbst Gastwirt, geerbt. Vielleicht ist er aber auch nur ein Naturtalent. So genau weiss man das nicht. Sicher ist, dass er mit Alain König einen hervorragenden Küchenchef am Herd stehen hat, der nicht nur um den Nachwuchs besorgt ist, sondern auch die französischen Klassiker beherrscht. Seine Quenelles de brochet (Hechtklösse) an einer Sauce Nantua suchen ihresgleichen – so wie auch seine tiefen Saucen. Oder anders gesagt: Jürg Richters Weine treffen im Zunfthaus zur Waag auf fruchtbaren Boden. «Ich habe bewusst Weine ausgewählt, die mit Königs Küche funktionieren», so Richter.

Einen wichtigen Teil des neuen Angebots bilden auch gereifte SauternesWeine, mit gutem Grund. Richter unterhält hierzulande eine der grössten Sammlungen der französischen Edelsüssweine und gilt auf diesem Gebiet als Kapazität. «Früher war Sauternes in Europa viel populärer als Rotwein», so Richter. Der gelernte Numismatiker (Münzkundler) empfiehlt, die mit dem Alter tiefschwarzen Weine zum Apéro zu geniessen. «Ein Sauternes, je älter, desto lieber, passt da besser als Champagner, er regt den Appetit an und schont den Magen.»

Zurzeit ist beim Sauternes der Jahrgang 1929 das Mass aller Dinge. Anders als Rotwein sind die berühmten Süssweine schier unendlich lange haltbar und unkompliziert – bitte immer in einem grossen Glas – geniessbar. Fast schon ehrfürchtig erinnert sich Richter an eine Flasche von 1811: «Ein Kometenjahr für Sauternes.» Im Zunfthaus zur Waag gibts einen legendären Château d’Yquem 1928 für 3420 Franken, einen Château Climens 1917 für 1080 Franken oder einen Château Suduiraut Crème de Tête 1982 für 534 Franken. Das sind auf den ersten Blick natürlich hohe Beträge, auf den zweiten Blick entpuppt sich die Marge allerdings als relativ bescheiden. Die Preisgestaltung überlässt Richter denn auch seinem Wirt und bevorzugt es generell, im Hintergrund zu bleiben. «Dort fühle ich mich einfach am wohlsten.»

Weine aus der Vergangenheit
Seit über 35 Jahren sammelt und geniesst Jürg Richter gereifte Weine, insbesondere aus dem Burgund und dem Bordeaux. Auf seiner Seite Sauternes.ch finden sich über 1000 Degustationsnotizen über den gleichnamigen Edelsüsswein. Gleichzeitig vertreibt der 56-Jährige über die Firma Orvinium reife Top-Weine an ein interessiertes Publikum.
wine-rarities.com

Zunfthaus zur Waag
Münsterhof 8
8001 Zürich
044 216 99 66
zunfthaus-zur-waag.ch