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Cigar 3/2015

Unter dem Hammer

Text: Claudio Zemp Illustrationen: Rolf Willi
Was sind Dinge wert? Roland Widmer macht aus verlorenen Sachen unserer Wegwerfwelt eine Show und ein Geschäft. In der Kunstauktion bei Koller Zürich geht fast das Gleiche ab, nur distinguierter — und mit etwas höheren Beträgen.
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Ein verschlossener Koffer ist zu haben. Er blieb am Flughafen Zürich liegen, 27 Kilo schwer. Niemand hat ihn vermisst. Und niemand weiss, was drin ist. «Vielleicht ein Goldschatz – oder nur schmutzige Wäsche?» Gantrufer Roland Widmer hat gut lachen, die Überraschungskoffer sind der Renner seiner Auktion. Bei einem Franken ging es los, das Volk bietet munter, nun ist der Koffer schon bei mehr als 600 Franken. Ein Herr im bunten Kurzarmhemd winkt weiter, ohne mit der Wimper zu zucken. Er will den Koffer. Und er kriegt ihn. «660, zum Erschte, zum Zweite – und zum Dritte.» Kann sich das lohnen? «Dafür würde ich eine Woche Ferien machen», kommentiert die Kioskfrau, die hier an der Higa-Messe in Chur auch ein sprechender Bankomat ist. Der Herr im Kurzarmhemd atmet hörbar durch, während sich Schaulustige um den Tisch mit dem Koffer scharen. Assistentin Melanie nähert sich mit der grossen Zange. Sie ist die Panzerknackerin, die das teure Gepäcksstück vor den Augen des neuen Besitzers öffnen darf.

Kulissenwechsel. Eine Kunstauktion bei Koller in Zürich. Auch hier werden Dinge versteigert, doch wird nicht auf kiloschwere Wundertüten geboten, sondern eben auf Kunstwerke. 137 Stücke Schweizer Kunst, um genau zu sein. Der Ablauf der Auktion aber ist im Kern gleich. Der Auktionator steht als «Master of Ceremony» mit dem Hämmerchen auf der Bühne, während die Gemälde von Assistentinnen in weissen Handschuhen ins rechte Licht gehalten werden. Auch bei Koller ruft der Chef persönlich aus: «Möchted Sie büütte?», fragt Cyril Koller charmant. «Oder wänd Sies nomol aaluege?» Ein kleiner Insiderscherz. Denn Koller kennt seine Kunden persönlich. Sie haben die Objekte ihres Interesses in der Regel vorbesichtigt und wissen sehr genau, was sie wollen. Kleinkrämer haben auf dieser Schnäppchenjagd nichts verloren. Das Personal trägt Nadelstreifenanzüge und Designerkleidung, es wimmelt von emsigen, jungen Service-Menschen, das ganze Haus ist engagiert. Das Publikum ist deutlich älter, aber gemischt. Für die Dame oder den Herrn mit gehobenen Ansprüchen wäre dies sogar eine Partnerbörse. Nur von wegen guten Partien. Selten sonst kommt so viel Geschmack und Kohle zusammen. Ohne komfortable Bonität kann man bei einer Kunstauktion nicht einfach mitspielen.

Bei der Fundsachen-Gant im Bündnerland schon. In der Eventhalle der Higa ist die Stimmung bodenständig. Beim Unterhaltungsanlass geht es auch nicht wie bei Gotthelf um ganze Haben und Heimetlis. Nein, das ist die Gant der Überfluss-Schweiz von heute. Es sind preziöse Nichtigkeiten, liegen gelassene Gebrauchsartikel, auf Reisen verlorene Habseligkeiten. In jedem Gegenstand ist ein kleines Drama versteckt. Kaum zu glauben, was im öffentlichen Verkehr liegen bleibt: ein Modellflugzeug, ein Einrad, eine Englisch sprechende Puppe, eine Discokugel. Was sind diese Dinge wert? An einer Auktion erfährt man anschaulich, wie Marktwirtschaft funktioniert. Die Nachfrage der Nachbarn spürt man sofort, das macht das Spiel erst interessant. Ein Markt in urtümlicher Form, fairerweise reglementiert und von Notaren überwacht. Schliesslich ist die Auktion eine echte Handelskette, nicht nur Plausch.

Cyril Koller gleicht seinem Vater Pierre, der vor 57 Jahren an der Dufourstrasse in Zürich eine Galerie eröffnete und die Firma Koller gründete. Vor 17 Jahren übernahm der älteste Sohn die Geschäftsleitung des Familienunternehmens. Das Auktionshaus hat Repräsentanzen auf drei Kontinenten. Es versteigert in Zürich und Genf, ausser Kunst auch Möbel, Schmuck und Porzellan. Zweimal jährlich heisst es bei Koller Auktionen «Schweizer Kunst». Eine kleine Landschaft in Öl eines Malers wie Gustave Castan gibt es ab 2000 Franken. Auch Bleistiftskizzen von Anker oder Hodler sind für wenige Tausend zu ersteigern. Doch in der Regel kostet hier ein Bild so viel wie ein Auto. Davon kauft man ja auch nicht irgendeins. An die Tausendersprünge in der Auktion muss sich das Ohr des erstmaligen Besuchers gewöhnen. «12000 am Telefon. Säged Sie 13? Ganz sicher nöd?» Nun, Kollers Klientel ist nicht die spontanste. Je luftiger die Höhe, desto wohlüberlegter die finanziellen Schritte. Man muss nicht vor Ort sein, um mitzubieten. Einige Kunden haben vorab beim Auktionator ihr Gebot deponiert. Sechs Damen nehmen zudem telefonische Gebote entgegen. Die Reihe der Telefonistinnen mutet seltsam adrett an, wie aus einer fernen Zeit. Kein Zweifel, hier werden alte Werte hochgehalten. Man kann aber auch online mitbieten. Eine elektronische Tafel über dem Auktionator zeigt das aktuelle Gebot in Franken, Euro, Dollar und Pfund Sterling.

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Fundsachenverkauf.ch hat einen Online-Shop bei Ricardo. Roland Widmer ist eher der billige Jakob. Seit zehn Jahren sind die verlorenen Dinge das Business des Marketingmanns, von dem mittlerweile 15 Mitarbeiter leben. Alles, was in der Schweiz in Zügen, Postautos sowie an Bahnhöfen und Flughäfen gefunden wird, landet bei Widmer, sofern der Besitzer den Gegenstand nicht reklamiert. Der Deal mit den SBB ist simpel, erklärt Widmer: «Sie müssen uns alles geben – und wir müssen alles nehmen.» Jeden Monat werden rund 8000 Fundsachen palettenweise angeliefert. Sortiert ergibt das im Schnitt fast 70000 Artikel. Widmer und sein Team machen die Triage, trennen das Wertlose vom Wertvollen. In Wollishofen hat Widmer ein Verkaufsgeschäft, den Supermarkt der Fundgegenstände. Wer Tasche, Schirm oder Velohelm braucht, wird dort garantiert fündig. Auch für Uhren, Handys und Sonnenbrillen ist die Auswahl bei Fundsachenverkauf.ch enorm. Ab und zu trifft auch eine Trompete in Wollishofen ein. Und einmal gar eine originale Piloten-Uniform der British Airforce, wie sie Prince William eine trägt. Mit den spezielleren Gegenständen macht Widmer zirka zweimal pro Jahr eine Gant.

Auf dem Titelblatt des aufwendig gestalteten Katalogs von Koller steht ein stämmiger Hodler-Turner, Öl auf Leinwand. Das Werk «Urkraft» von 1908 ist auf eine halbe Million Franken geschätzt. Es erzielt aber nur ein Gebot von 340000 – das Bild geht zurück an den Verkäufer. So erbt der «Meister der Farbe» Augusto Giacometti das Rekordergebnis des Nachmittags. Sein leuchtendes Hafengemälde «Marseille II» von 1930 geht für 360500 Franken an ein elegantes Paar in der hintersten Reihe. Gespannt hält die Frau ihr gelbes Blatt in die Höhe, bis niemand sonst mehr bietet. Die zwei freuen sich fast schon jugendlich über den Zuschlag. Es sieht so aus, als würden sie das Bild gleich einpacken lassen und mitnehmen, vielleicht, um damit im Cabrio nach Marseille zu brausen. Aber das ist reine Banausen-Fantasie. Tatsache ist, dass zum Zuschlaggeld noch ein Aufgeld dazukommt. Und die Mehrwertsteuer. Geliefert wird erst nach Bezahlung. Aber Stopp, niemand liest das Kleingedruckte der Auktionsbedingungen. Was zählt, ist das Motto von Pierre Koller: «Das Wichtigste ist die Leidenschaft.»

Apropos: An der Higa wechselt gerade ein Spielzeug-Gewehr den Besitzer. Für den Jäger von morgen, pädagogisch wertvoll. Ein Klettermax ersteigert Karabiner und Klettergurten im Multipack. Und dann folgt mit den rosarot verpackten «Erotiksets» ein weiterer Höhepunkt. «Für sie und für ihn», sagt Widmer und zwinkert, mehr verrät er nicht. Schliesslich lebt auch die Erotik vom Geheimnis. Widmer läuft zur Hochform auf, neben den Flughafenkoffern sind die Erotiksets ein Selbstläufer. «Das wird garantiert ein lustiger Abend», verspricht Widmer. Für 120 Franken schnappt sich eine Frauengruppe das Paket, indem sie die Herde Jungs auf der anderen Seite überbietet.

Auch die Schweizer Kunst ist nicht ganz frei von Erotik, wenn diese auch sicher nicht so billig daherhopst. Trotzdem, Obacht, «Lot 3042» ist ein Akt. Ein unverschämt realistischer weiblicher Akt von Cuno Amiet. Der Maler hat darauf seine liebste Hilda Trog kokett verewigt. Eine Lolita, die sich mit roten Zöpfen auf einem Teppich räkelt. Nun, dafür interessieren sich gleich zwei Bieter brennend. Beide liefern sich am Telefon ein verbissenes Pingpong. Davon träumt ein Auktionator, Schlag auf Schlag folgen die Gebote von Linie drei und fünf, keiner lässt locker, bis es dann einem doch zu bunt wird. Oder zu teuer. Das Werk wird für 235000 verkauft, alle anderen Bilder von Cuno Amiet erzielen nur einen Bruchteil.

Widmer macht mit Fundsachenverkauf keinen Gewinn, zu gross sei der Aufwand. An den Dingen zu hängen, kann er sich nicht leisten. Obwohl es ihm schon ans Herz geht, wenn Kinderschätze auftauchen. Objektiv wertlose Objekte, aber sicher mit Tränen getränkt. Oder wenn ein alter Mensch eine Sammlung seines Lebens mit sich herumträgt und den Koffer dann doch stehen lässt, gerät Widmer ins Grübeln. Ach ja, fast wäre er vergessen gegangen, der Flughafenkoffer. Es waren Damenkleider drin, dazu ein Laptop, ein Buch «Arabisch für Dummies» und etwas Modeschmuck. Der Käufer wird später beteuern, dass auch noch Gold drin war. Niemand verübelt es ihm. Vor der Messehalle trägt eine junge Frau ein Bündel Eishockeyschläger nach Hause. Sie sieht recht glücklich aus, trotz der beträchtlichen Last auf der Schulter.